Das Bodhi-Blatt

Tsoknyi Rinpoche gab 2011 in Bodhgaya, Indien, das folgende Teaching, in dem er die Geschichte seiner eigenen Erfahrung mit Bodhicitta erzählt (leicht editiert).

Wenn dein Geist einfriert, dann kannst du keinen Raum, keine Offenheit finden, und ohne Raum und ohne Offenheit kann kein Mitgefühl entstehen. Der springende Punkt ist, Nicht-Anhaftung zu erfahren.

Wenn du an deine Flasche Mineralwasser anhaftest, so heißt das, das Mineralwasser ist sehr wichtig für dich, und wenn du dieses Objekt der Anhaftung loslässt, dann erzeugst du großen Verdienst. Ich denke, Dinge geschehen hier durch den Segen Bodhgayas.

Vor fünf Jahren dachte ich, dass ich manches verändern müsse, also schaute ich mir meine gesamte buddhistische Praxis unter dem Blickwinkel notwendiger Veränderungen an. Ich erkannte, dass das, was ich verbessern musste, Bodhicitta war. Ich denke da an diese bequeme Dharma-Praxis, ich nenne sie California Dharma Praxi, in der man sich gemütlich einrichtet, achtsam, entspannt, gewahr ist, Liebe für andere empfindet… und all das macht einen glücklich. Man besitzt alles, was einen Dharma Praktizierenden ausmacht – wenn man etwas Stress hat, die Umgebung nicht so gut ist, dann denkt man „Ok, das ist Vergänglichkeit“, und dann praktiziert man. „Oh, das ist der Buddha-Bereich“, denkt man und fühlt sich freudvoll und behaglich.

Aber Bodhicitta bedeutet, dass man bereit ist, für andere auch zu leiden. Wirkliches Mitgefühl hat keine Angst vor Leid. Man muss denken, „Ich will helfen, ich werde helfen, aber auf dem Weg des Helfens werde ich vielen Schwierigkeiten begegnen, aber das ist für mich in Ordnung. Ich bin bereit, das Risiko einzugehen“. Bodhicitta-Handlung ist nicht bequem, sondern ein steiniger Weg, aber wenn du ihn wirklich gehen willst, dann denke ich, wächst der erste Same von Bodhicitta in deinem Geist.

So dachte ich damals in Bodhgaya, „Ich würde gern wieder das Bodhisattva Gelübde nehmen“, also ging ich um etwa 5 Uhr, die beste Zeit für mich, zur Stupa, umrundete sie einmal, zwei Mal und beim dritten Mal, unter dem Bodhibaum, genau an dem Ort, wo Buddha erleuchtet wurde, war ich gerade dabei, das Bodhisattva Gelübde zu nehmen: In diesem Moment fiel ein Bodhiblatt vom Baum, berührte meinen Kopf und fiel zu Boden. Menschen saßen auf beiden Seiten des Weges, sangen, meditierten. Ich dachte, sie würden praktizieren, aber in Wirklichkeit warteten sie auf das Blatt. Als es den Boden berührte, kamen auf beiden Seiten meiner eigenen Hände ungefähr 10 fremde Hände zusammen. Auch ich griff automatisch nach dem Blatt, und meine Hand war schneller als all die der anderen, ich berührte als erstes das Blatt, die anderen Hände berührten nur meine Hand. So bekam ich das Blatt. Ich fühlte mich gut. „WOW“, dachte ich, „in dem Moment, in dem ich das Gelübde sprach, habe ich das Blatt berührt, jetzt besitze ich es und fühle mich sehr gut.“ Dann machte ich ein paar Schritte und fühlte mich plötzlich sehr schlecht. Vor einigen Sekunden nur hatte ich das Gelübde genommen und wollte mein Leben allen fühlenden Wesen widmen, konnte ihnen aber nicht einmal ein einfaches Bodhiblatt überlassen. Ich spürte den Widerspruch. Fast hätte ich das Blatt zerknittert, aber dann kam mir der Gedanke, dass es mich an meine Bodhicitta-Praxis erinnern konnte. Ich befestigte es auf einem Stück Papier und nun hängt es eingerahmt über meinem Bett.

Ich glaube, dass ein authentisches Gefühl von Bodhicitta nicht so einfach ist. Ich arbeite noch daran. Immer selbstsüchtig, aufgesogen in Eigeninteresse, möchte ich Mantren für mich selbst singen, ich will mich hinsetzen und für mich Frieden haben, ich möchte ein bisschen Tonglen praktizieren und mich gut fühlen. Ich setze mich hin um zu praktizieren, ich gebe mein Dharma, meine Tugend und nehme das Leiden der Wesen auf mich, 25 Minuten lang. Danach fühle ich mich großartig. Auf diese Weise dreht sich das ganze Dharma um mich selbst – ich möchte mich großartig fühlen, einschließlich Bodhicitta, einschließlich der Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha. Da steckt immer ein „Ich“ hinter allem: Wenn wir dieses „Ich“ nicht transformieren, wird das Dharma überhaupt nicht funktionieren.

Manchmal fühle ich mich sehr gut, wenn ich zur Stupa gehe, manchmal fühle ich mich traurig. Denn da sind hundert Tausende von Menschen, die die Stupa umrunden und auf ihr eigenes „Ich“ fokussiert sind. Ich möchte Niederwerfungen machen, ich möchte das Gesicht von Buddha sehen… „ich“. „Ich“ beim Singen, immer nur „ich“, das Dharma hilft mir, mir, mir. Ich habe nur wenige gesehen, die ihr Ich losließen. Wir praktizieren Dharma, doch dahinter ist ein Tuer, ein Erfahrer, ein Praktizierer. Wenn dieses „-er“ nicht transformiert wird, kann Dharma nicht funktionieren, dann geht es immer nur um einen selbst.

Manchmal gehe ich jetzt zur Stupa ohne etwas zu tun, nur um dort zu sitzen und zu beobachten, ob ich gerade wieder etwas für mich selbst tun möchte – Kontemplation, Bodhicitta, Leerheit – wofür? „I want to feel good.“ Solange du das nicht loslässt, wird sich wahres Bodhicitta nicht einstellen.

Das verfestigte „Ich“ praktiziert verfestigtes Dharma, d. h. „ich“ würde gerne dauerhaftes Glück erfahren, „ich“ würde gerne die Quelle des Leidens loswerden. Alles ist ernst, festgefügt und logisch. Zuerst musst du dieses verfestigte „Ich“ erfahren, dann musst du darüber kontemplieren, ob „Ich“ existiert oder nicht. Wir nennen das analytische Meditation, die sehr wichtig ist. Analysiere die Dinge und du wirst sehen, dass alles bloße, nackte Existenz ist. Auf Leben und Tod trifft zu, dass sie in gewisser Weise ein Witz sind, und innerhalb dieses Witzes gibt es Ursache und Wirkung. Ursache und Wirkung ist auch Teil des Witzes. Du musst lockerer werden, aber nicht zu locker. Das ist es, was Nagarjuna die Einheit von zwei Wahrheiten, relativ und absolut, nennt.

Solange das nicht realisiert ist, ist es sehr schwierig. Wenn du die beiden Wahrheiten nicht zu einer Einheit zusammen bringen kannst, ist es sehr schwer, Dharma zu verstehen – es wird schwarz und weiß, relativ dauerhaft – schlussendlich nichts. Das Absolute und das Relative kommen zusammen wie Milch und Wasser. Ah, wir haben die Kunst, den Tanz, die Bewegung des Dharmas verloren! Entweder nichts oder alles, entweder die Welt existiert oder sie existiert nicht. Wie kann es sein – diese Existenz und Nicht-Existenz zusammen, ganz spontan? Wie Nagarjuna immer bemerkte, die Einheit der beiden Wahrheiten ist wirklich wichtig. Je mehr ich über Dharma nachdenke: Es ist weder Nihilismus noch Realismus, nur leeres Gewahrsein. Form ist leer, leer ist Form. Wenn diese zwei Dinge in deinem Geist keinen Konflikt hervorrufen, dann verstehst du Dharma.

Quelle: News Archives by month, January 2011

Übersetzung: ewi

Weitere Belehrungen von Tsoknyi Rinpoche auf Englisch, siehe tsoknyirinpoche.org/teachings.html.