Die Sichtweise der rechten Shamatha

Belehrungs-Ausschnitt, Seminar II, 25.03.2010, Riederalp 

Shamatha bewegt sich innerhalb des Beschreibungsmodells der acht Bewusstseinsaspekte in den letzten drei, dem sechsten, siebten und achten Bewusstseinsaspekt: Das bloße Gewahrsein des Geistes, das Ich-besetzte Gewahrsein und das Allgrund-Bewusstsein. Wenn wir Shamatha üben, versuchen wir, uns auf der sechsten Stufe zu halten, ohne diese von den Informationen der siebten und achten Stufe überrennen zu lassen. Wir versuchen, in dieser sechsten Stufe des Gewahrseins die Sichtweise der Shamatha zu kontaktieren. Ohne diese Sichtweise können wir Shamatha nicht in der rechten Weise praktizieren.
Die Sichtweise der rechten Shamatha ist: Klar erkennend, frei von Bewertungen – das heißt nicht: frei von Gedanken, sondern frei von Bewertungen aus der siebten Stufe. Es ist ein unbewegtes Gewahrsein, ein Gewahrsein, das im Hier und Jetzt auf der sechsten Stufe verweilt und nicht davon abrückt.

Shamatha, oder unser Geist, hat immer zwei Aspekte: den der Ruhe, er verweilt in sich selbst im Hier und Jetzt. Oder er bewegt sich mittels einer Gedankenbewegung von der Ruhe weg. Üben wir uns in der Sichtweise, so müssen wir diese zuerst kontaktieren in einem Gewahrsein, das klar erkennend, frei von Bewertungen und unbewegt ist. Das nennt man die Sichtweise der rechten Shamatha.
Diese Sichtweise erhalten wir kontinuierlich aufrecht durch zwei andere Aspekte unseres Geistes: Einmal durch den Aspekt der Achtsamkeit, der gesteuert wird durch die selbst-überprüfende Wissens-Klarheit.
In der Shamatha-Praxis bedarf es einer gewissen Energie, einer gewissen Anstrengung. Die Achtsamkeit muss mit einer bestimmten Maß an Energie diese Kontinuität der Shamatha-Sichtweise aufrecht erhalten.
Wir üben uns in einer Kontinuität dieses unbewegten Gewahrseins, das erkennend, aber eben frei von Bewertungen ist. Und wir versuchen nur so viel Energie rein zu geben, wie notwendig ist, nicht zu viel und nicht zu wenig.
Bei der Shamatha können Irrwege oder Fehler geschehen. Es gibt den Begriff von Shine Gugpa oder Shigug, also stupide Shamatha. Das Bedürfnis nach innerem Frieden kann dies auslösen. Das muss man ganz klar unterscheiden. Das sind Irrungen in der Praxis von Shamatha, in der es um Verweilen geht. Aber wenn dieses Verweilen ohne den Klarheitsaspekt ist, dann nennt man das Shigug. Es ist friedlich, jedoch dumpf, man verweilt, aber ohne Klarheit.
Bei der stupiden Shamatha fehlt die Klarheit, der erkennende Aspekt. Viele Praktizierende haben die Angewohnheit, Shamatha mit geschlossenen Augen zu praktizieren. Allein diese Tendenz des Augenschließens kann dazu führen, dass der Klarheitsaspekt, der erkennende Aspekt, etwas gedimmt wird, sodass man sich in Richtung stupider Shamatha entwickelt. Daher die Empfehlung, sich daran zu gewöhnen, Shamatha mit offenen Augen zu praktizieren.
Stupide Shamatha ist sehr weit verbreitet, weil sie ein friedliches Erlebnis verschafft. Zu Weisheit führt dies aber sicher nicht.
Man muss zu unterscheiden wissen und diese mögliche Irrung kennen. Dann kann man darüber reden, wann diese Irrung auftritt und wie sie ausgerottet werden kann. Sie ist keine Schande, es passiert allen Meditierenden, dass sie manchmal für Augenblicke oder für eine gewisse Zeit in stupider Shamatha landen. Aber man sollte zwischen rechter und stupider Shamatha unterscheiden können und man sollte auch wissen, wie man diese Verirrung aufhebt. Es ist wie ein mentaler Frühruhestand. Als hätte man ein Stück Lammkeule auf den Kopf gelegt. Es fühlt sich schwer an, man wird müde, der Klarheitsaspekt ist abgestellt, aber man ist noch nicht eingeschlafen, man hat Erlebnisse, Gefühle, Empfindungen. Man empfindet Frieden.
Ähnlich geht es oftmals Leuten, die gerne Mantras rezitieren. Diese Praxis läuft so automatisch, man kann den Kopf, den erkennenden Aspekt dabei abstellen. Im subtilen Körper hat man eine angenehme (friedliche) Empfindung und gleichzeitig singt man die wunderbaren Mantras. Man ist nicht wirklich eingeschlafen, man praktiziert ja. Und man denkt, es ist doch wunderbar, Buddhismus zu praktizieren. Nach einigen Jahren der Praxis in dieser Art ist keine Entwicklung festzustellen. Die Dzogchen-Lehre hat sich darauf spezialisiert, solchen Praktizierenden die Leviten zu lesen. Ob ihr Shamatha praktiziert oder Vipassana oder Dzogchen: Der erkennende Aspekt muss immer, in allen Praxisebenen, vorhanden sein! Wenn er fehlt, ist das wie eine spezielle Droge. Dieses Abdriften ist für den subtilen Körper in gewissem Maße sogar heilsam. Deswegen fühlt man sich gut. Wenn wir den erkennenden Aspekt aufrecht erhalten können, dabei unsere Mantragesänge machen oder Shamatha üben und zugleich die angenehme Empfindung im subtilen Körper erleben, dann ist es am besten. Ob wir uns im Shamatha-Samadhi oder Vipassana-Samadhi befinden, oder im Samadhi von Dzogchen, es geht immer um die Sichtweise. Bei jeder Praxis geht es an erster Stelle um die Sichtweise. Wenn wir die Sichtweise haben, dann ist das, was wir praktizieren, auch heilsam, verdienstvoll und nützlich.
Wenn das Feuer des rechten Samadhi, der rechten Meditation, vorhanden ist, kann es durch den Wind, den Blasebalg der Mantrarezitation angefacht, ja verstärkt werden. Wenn man überhaupt kein Feuer hat, dann kann man den Blasebalg bewegen so oft man will, da fängt nichts an zu brennen. Mantras haben eine kolossale Kraft. Aber die kann sich nur entfalten, wenn man die rechte Sichtweise praktiziert. Eine Meditation ohne die rechte Sichtweise ist, als würde man in ein dunkles Loch fallen. Als würde man blind durch die Gegend laufen. So krass kann man das definieren.
Der erste Schritt ist immer, dass wir die rechte Sichtweise finden. Auch im normalen Alltag muss man erst einmal eine Sichtweise haben, wenn wir etwas machen wollen. Wenn du etwas machst, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie soll das funktionieren? So arbeiten die Leute in Nepal, die wissen nicht, was sie tun. Die bauen ein Haus mit der Einstellung: „Mal schauen, wie es sich entwickelt!“
Doch im Buddhismus, wie kann man da ohne die rechte Sichtweise meditieren? Der erste Schritt ist daher, die rechte und richtige, also fehlerfreie Sichtweise zu kennen. Wenn wir eine Meditation praktizieren, basierend auf der rechten Sichtweise, dann hat auch eine kleine Praxissequenz eine kolossale Wirkung. Aber wenn wir Stunden und Wochen, Monate und Jahre praktizieren ohne die rechte Sichtweise erlangt zu haben, ist solch eine Meditationspraxis überflüssig, unsinnig, resultatlos.

Bei Shamatha gibt es eine zweite Möglichkeit, einen Fehler zu machen: Wenn wir den erkennenden Aspekt in Fixieren, Grabschen oder Identifikation verkommen lassen.
Schaut mal hier: Die Serviette ist jetzt z.B. die Sichtweise, klar erkennend. Und die Achtsamkeit (meine Hand) hält jetzt diese Sichtweise unabgelenkt aufrecht. Das ist jetzt Meditation. Die Sichtweise, klar erkennend, ohne Bewertungen und nicht wegbewegend. Doch da ist, wenn ich zu sehr festhalte, zu viel Achtsamkeit, zu viel Energie drin. Und nach einer halben Stunde von verkrampfter Achtsamkeitspraxis wundert man sich, warum man vom Meditieren müde wird. Man fragt sich, welchen Fehler man gemacht hat und erinnert sich an die Anweisung, sich zu entspannen. Nun fällt man womöglich in das andere Extrem. Erst verkrampfte Achtsamkeit, dann Entspannung ohne Sichtweise, also Stupidität. Es besteht immer eine Gefahr, dass wir beim Praktizieren in Extreme gehen.
Wenn man aus einer Verwundung oder aus einem aufgewühlten, aufgeregten Geisteszustand heraus üben, dann kann man durchaus die Tendenz haben, mit zu viel Energie, mit verkrampfter Achtsamkeit zu praktizieren. Das kann passieren. Diese mögliche Fehlerquelle gilt es zu kennen und auch das passende Gegenmittel zu wissen, um diesen Fehler zu beseitigen.
Hier bringt man etwas unterscheidende Weisheit hinein. Die meisten Gegenmittel, die meisten Hilfsmittel, um Fehler zu begradigen, Hindernisse zu bereinigen, basieren auf unterscheidender Weisheit.

Ganz anders ist es bei den sogenannten Intensivierungs-Praktiken, speziell im Vajrayana. Da geht es nicht so sehr um den Weisheits-Aspekt, sondern mehr um den affektiven Aspekt. Zum Beispiel bringt man die Herzensöffnung, die Hingabe hinein, die eine kolossale Intensivierung der Sichtweise hervorrufen kann. Es gibt ein ganzes Set im Vajrayana, wo es um Hingabe geht. Durch diese Hingabepraxis bringt man Segenskraft in den Geist. Es gibt Segenskraft, das ist eine richtige Kraft. Wenn wir es schaffen, nach den richtigen Anweisungen Segenskraft in unsere Praxis hineinzubringen, dann entwickeln sich unsere Sichtweise und unsere Meditation in außergewöhnlicher Weise.
Eine andere große Intensivierungspraxis liegt im Vermehren der Ansammlung von Verdienst. Oder in der Praxis der Herzensöffnung, der Hingabe und des Vertrauens, womit wir die Segenskraft in den Geist eintreten lassen. Durch diese Intensivierungspraktiken verbessern und intensivieren wir unsere Sichtweise und unsere Meditation im Rahmen der Vajrayana-Praktiken. Da wir relativ neu im Buddhismus sind, ist es natürlich, dass wir nicht verstehen, was diese Praktiken bedeuten und was sie beinhalten und warum sie eingesetzt werden.
Schaut mal in die spirituellen Gesänge der großen Meister, die aus der Erkenntnis direkt hervorsprudeln. Es heißt dort oft, dass man Hindernisse durch unterscheidende Weisheit ausräumen kann. Auf der Seite der geschickten Methode sind die größten Intensivierungspraktiken die Ansammlung von Verdienst und die Herzensöffnung oder Hingabe. Schaut doch mal zum Beispiel in die Biographien von Meistern wie Dilgo Khyentse Rinpoche. Diese Meister haben sich alle in langer Klausur mit den Vorbereitenden Übungen beschäftigt. Und sie haben die Ansammlung von Verdienst gemehrt, sie haben sich intensiv in Herzensöffnung und Hingabe geübt, um die Segenskraft der Linie und der Meister in das eigene Herz zu bringen. Und das ein ganzes Leben lang und obwohl sie große Meister waren. Da könnte ein Hinweis für uns liegen.
Die ganze Geistesschulung in Mitgefühl gehört auch zu den großen Faktoren, die unsere spirituelle Kapazität in ungeheuerlichem Ausmaß mehren. Wir können mit der uns eigenen Geschwindigkeit spazieren gehen. Aber wenn ein kräftiger Wandersmann uns an der Hand nimmt und uns den Berg hinaufzieht, kommen wir viel schneller oben an. Das ist das Prinzip oder die Metapher für diese Intensivierungspraktiken, die wir im Vajrayana finden. Ein großer Intensivierungs-Bereich liegt im Vermehren des Verdienstes, der andere in der Entfaltung von Hingabe und Herzensöffnung, um die Segenskraft herunterzubringen. Im Vajrayana hat man keine Schuldgefühle, die Meister und die Buddhas um Hilfe zu bitten. Im Vajrayana machen wir alles, was hilft. Wir wenden uns an den Buddha, wir praktizieren den Dharma, wir stützen uns auf die erwachte Sangha. Da gibt es Schutzgottheiten, Dakas und Dakinis. Und manchmal zu viele Hilfsanträge.

Um nochmals auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Die zwei Probleme, die bei der Shamatha auftreten können, sind einmal das Problem des Absinkens, wobei der Klarheitsaspekt gedimmt wird und man in stupide Shamatha sinkt. Die andere mögliche Fehlerquelle ist, dass der Klarheitsaspekt zu aufgewühlt wird, dass er sich in Konzepte ergeht, weil man einfach zu erregt ist. Und da steuert man mit vielen Methoden dagegen, z.B. mit der subtilen Vasenatmung, um die Energie herunterzubringen, um sich von innen heraus zu entspannen und um den subtilen Körper zu beruhigen.

 

Übersetzer: Andreas Kretschmar
Transkribiert und bearbeitet: hgm

Weitere Belehrungen von Tsoknyi Rinpoche auf Englisch, siehe tsoknyirinpoche.org/teachings.html.