Der Großmeister Samsaras und das Thema Disziplin

Was ist schwieriger für langjährige Praktizierende: Mit Emotionen zu arbeiten oder eher die Rastlosigkeit oder sogar die Disziplin? Vor allem Disziplin ist das Problem langjähriger Praktizierender.

Menschen, die zum Dharma kommen, sind in der Regel ziemlich intelligent. Sie haben ein gewisses Verständnis für Emotionen und Negativität. Sie wissen, dass da etwas ist, was stört und aus diesem Grund suchen Sie einen spirituellen Pfad.
Nach einigen Jahren Praxis sagen viele von Ihnen mit großer Selbstzufriedenheit: „Ich weiß wie man ohne zu viel Ablenkung sitzt. Ich weiß wie man Lung an seinen Platz zurück bringt. Ich weiß sogar wie man Gedanken befreit. Ich kenne mich aus.“ Da Sie mit sich selbst zufrieden werden, bleiben Sie genau dort stecken. Aus buddhistischer Sicht geben Sie sich mit dem falschen Gegenstand zufrieden.
Sie sagen: „Diese Praxis bringt mir viel Freude. Morgens kann ich eine halbe Stunde oder manchmal sogar eine ganze Stunde praktizieren. Untertags kann ich mich von Zeit zu Zeit immer wieder mit Rigpa verbinden. Ich kann überall praktizieren, wo auch immer und wann immer ich will... ich bin in Ordnung. Ich habe gesehen, die Rigpa-Praxis ist nicht ortsgebunden. Ich kann an vielen Orten, sogar beim Einkaufen praktizieren.“ Sie glauben, Sie praktizieren, doch das ist oft nicht wirklich der Fall. Diese falsche Gewissheit ist ein großes Hindernis für Sie geworden. Sie sind stecken geblieben und machen keine Fortschritte mehr, wenn Sie es nicht schaffen, dieses Hindernis loszuwerden. Verstehen Sie das? Sie sind in Gefahr, ein Großmeister Samsaras zu werden.

Durch die spirituelle Praxis haben Sie Samsara erkannt, und jetzt gebrauchen Sie die spirituelle Praxis dazu, Samsara besser zu gestalten. Wenn man ein Großmeister Samsaras geworden ist, dann praktiziert man nicht mehr sorgfältig. Sobald Sie Probleme haben, sobald die Emotionen aufwallen und das Lung steigt, erst dann praktizieren Sie. Wenn alles rund läuft, wird die Sitzpraxis leicht vergessen. Die Dharma-Praxis wird dann zu einer weltlichen und noch dazu kostenlosen Therapie.

Solche ‚Faulheit‘ kann dem Großmeister Samsaras ein Problem einbringen: Stolz. Sie sagen öfters, „Ich weiß. Ich weiß.“ Ihr Ich ist stolz auf Ihr Wissen und verhüllt sich im Mantel eines langjährigen Dzogchen-Praktizierenden. Dieser Stolz ist nichts anderes als Anhaftung an das Ego, und dafür gibt es immer eine Basis. Als Praktizierende brauchen wir den richtigen Stolz, der auf der Basis von der Wahrheit des Dharma beruht und nicht auf Vertrauen in die Ego-Werbung hinsichtlich der eigenen Dharma-Praxis.
Wir erkennen aber den Unterschied zwischen Stolz aufgrund von Vertrauen und Stolz aufgrund von Ego-Anhaftung oft nicht, weil unsere Intelligenz von Umständen und Trübungen geprägt ist, leicht in Gegensätze kippt und parteiisch gegenüber unserem Identifikationsobjekt wird. Ach, die arme Intelligenz! Sie muss sich immer vor Umständen und vor unserem Ich – in diesem Fall ist es das Ich vom Großmeister Samsaras – beugen.

Wenn Sie darüber nachdecken, könnte es Ihnen klar werden: „Ich bin zwar so weit gekommen, aber ich sehe, dass es nicht weit genug ist. Ich muss, wenn ich mehr erreichen will, den Stolz auf das, was ich schon weiß und auf das, was ich glaube zu sein, loslassen.“ Der nächste Schritt ist die Bodhicitta-Praxis. Sie sollten aufrichtig sagen können: „Der Dharma hat mir persönlich viel gebracht, aber wenn ich mehr praktiziere, könnte ich auch anderen fühlenden Wesen helfen.“ Sie brauchen diese Entschlossenheit, um vom Fleck zu kommen. Mit einer dauerhaften Praxis werden Geist und Körper ruhiger und damit weniger abhängig von dem unerbittlichen Trieb des Ich. Wenn Sie ruhiger werden, stellen sich Offenheit und Disziplin leichter ein, sie bleiben stabil. Mit dieser Disziplin sind Sie weniger faul, weniger abgelenkt und haben größere Präsenz. Wenn Sie präsenter sind, stärkt das die Disziplin noch mehr und die Praxis läuft gut.
Vor allem dient die Disziplin unseren äußeren Handlungen, weil sie sich auf die Überwindung von Faulheit in unserer Praxis ausrichtet. Wenn sich die Disziplin nach innen richtet, dann wird man verklemmt, der Geist wird eng, was wiederum leicht Schuldgefühle schafft. Eine solche Disziplin gleicht einer Folter. Aber mit einer gesunden, tatkräftigen Disziplin kann man leicht alles liegen lassen und sofort handeln, wenn auch vielleicht nur 10 Minuten lang. In diesen 10 Minuten kann man alles vollständig loslassen und den Dharma ohne Zögern und ohne lange Vorbereitungen praktizieren. Eine solche Disziplin ist frei von Sorge.
Die Sorge hält uns von der Praxis ab, weil wir uns mit dem Gedanken beschäftigen: „Oh, ich muss praktizieren. Ich weiß, dass ich muss, aber die letzten 20 Jahre sind einfach so vergangen! Ich hätte praktizieren sollen. Ich habe so viel Zeit verloren. Jetzt sagt Tsoknyi Rinpoche, dass ich nur ein Großmeister Samsaras bin und ich stimme dem zu. Aber ich fürchte, die nächsten 20 Jahre gehen so blitzschnell vorbei wie die letzten. Vielleicht ist es dann zu spät. Ich hoffe nicht. Ich muss jeden Tag praktizieren und die verlorene Zeit nachholen, aber ich habe die Zeit nicht mehr und mir fehlt ein geeigneter Platz dafür. Vielleicht sollte ich eher eine lange Klausur machen. Wie schaffe ich das? Vorher muss ich vieles erledigen. Vielleicht werde ich eines Tages bereit sein. Ich hoffe es. Ich weiß es nicht... alles hinzukriegen ist halt schwierig!“
Sie handeln nicht und alle Sorgen der Welt helfen nicht. Der Stolz hält Sie am Fleck fest, er ist der Klebstoff des Großmeisters Samsaras. Ohne Klebstoff scheint alles auseinander zu fallen und Sie machen sich Sorgen. Vorher war alles klar und jetzt machen Sie sich Sorgen, ob Sie es schaffen oder nicht. Tun Sie es einfach! Fangen Sie einfach mit Chanten an. Fangen Sie einfach mit der Meditation an. Tun Sie es einfach – wo auch immer, wann auch immer. Tun Sie es einfach in einem Taxi, zu Hause, beim Kochen, wann auch immer. Warten Sie nicht eine Veränderung ab, bevor Sie anfangen.

Tsoknyi Rinpoche erzählt von sich: Ich bin kein gutes Beispiel für Disziplin, wenn es um Fitness geht. Wenn Sie so handeln, wie ich mit Fitness umgehe, dann werden Sie nie zur Praxis kommen. Es geht um ein psychologisches Problem. Ich glaube, ich muss in ein Fitness-Zentrum gehen, aber ich bin nur 15 Tage im Jahr in Kathmandu. Ich denke, es macht kein Sinn, da man zumindest 2 Monate benötigt. Anschließend warte ich, bis diese 2 Monate sich ergeben, aber sie kommen fast nie. Eigentlich könnte ich in diesen 15 Tagen in Kathmandu regelmäßig im Fitnessstudio üben und auf Reisen die Übungen im Zimmer machen, wie Mingyur Rinpoche. Er ist sehr diszipliniert. Er bewegt sich täglich. Er ist so schlank, so dünn. Auch wenn er vor dem Essen nur 10 Minuten Zeit hat, bewegt er sich, er springt z.B. 100mal hoch. Und das reicht. Ich könnte es auch machen, weil ich vor der Mahlzeit über genau so viel Zeit verfüge wie er, aber ich warte auf die Mitgliedschaft in einem Fitness-Zentrum. Und so sieht es dann bei mir aus (zeigt auf den Bauch). Mingyur Rinpoche reist mehr als 7 Monate im Jahr, genau so viel wie ich, aber er erhält die Disziplin aufrecht, das innerliche Fitness-Zentrum. Zwanzig Minuten am Tag sollten ganz einfach und überall zu finden sein. Aber es geht nicht um Zeit, sondern um einen Geisteszustand. Wie kommen wir zu diesem „Tu es einfach“- Geisteszustand?

Kehren wir zu dem Gespräch zurück, das wir vorher mit uns selbst führten. Normalerweise führen solch innere Gespräche zu dem Entschluss: „Gut, ich werde es tun! Ich werde mehr praktizieren und gehe in Langzeit-Klausur. Aber dazu muss ich die günstigen Bedingungen schaffen. Ich rede zuerst mal mit meiner Familie, ich regle alles und erst dann fange ich an.“ Die Chancen sind gut, dass dieses Gespräch nie stattfindet. Auf diese Weise fängt die regelmäßige Praxis nie an, ganz zu schweigen von einer Langzeit-Klausur. Aber Sie haben Recht. Sie müssen Ihr Leben umgestalten, damit Sie die notwendige Disziplin aufbauen können. Beobachten Sie sich gut, damit Sie genau jene Denkmuster, die Ihre Disziplin verhindern, herausfinden. Sobald Sie verstehen, dass es auch für langjährige Praktizierende von Wert ist, alles loszulassen und wann auch immer 10-15 Minuten lang zu praktizieren, wird am Ende die regelmäßige Praxis nicht zu schwierig sein.
Bevor Sie an eine Langzeit-Klausur denken, müssen Sie größere Gewohnheitsmuster aufbrechen, um zuerst mal wieder eine starke tägliche Praxis aufzubauen. Als langjährige Schüler müssen Sie eine tägliche Sitzpraxis bis zu 3 Stunden aufbauen können. Sie müssen das eine oder andere opfern und Ihren Lebensstil etwas ändern, um genug Disziplin dafür aufzubringen.
SH Dalai Lama steht täglich um 3 Uhr morgens auf, um 3 Stunden zu praktizieren. Er hat aber sein Leben so gestaltet, dass er früh genug zu Bett geht. Er hat genug Disziplin, das täglich zu schaffen.
Sie müssen nicht gleich handeln wie Seine Heiligkeit. Als Familienmensch sind Sie nicht nur sehr beschäftigt, sie müssen auch die Bedürfnisse Ihrer Angehörigen berücksichtigen. Sie müssen alle Familienmitglieder (inkl. Kinder) zu Hause als Mannschaft organisieren. Sie müssen ein gemeinsames Gespräch führen, um zueinander zu finden. Durch solche Planung und Unterstützung lernen die Kinder einiges über Praxis und über die Notwendigkeit von Disziplin... und vielleicht ein Großmeister Samsaras erst recht!

Quelle: pundarika.org > archive > June 2011

Übersetzung: jw

Weitere Belehrungen von Tsoknyi Rinpoche auf Englisch, siehe tsoknyirinpoche.org/teachings.html.