Interview von Sharon Salzberg mit Tsoknyi Rinpoche

zu Themen seines neuen Buches Open Heart, Open Mind - Awakening the Power of Essence Love

Was ist die “Essenz-Liebe”? Wie können wir, in Rinpoches Worten, „einen erwachsenen Geist mit dem Herz eines Kindes verbinden“?
Das Buch ist auf Deutsch unter dem Titel Öffne dein Herz und lausche. Der Weg, zu sich selbst zu finden ab dem 24. September 2012 erhältlich (Arkana-Verlag).

Frage: Rinpoche, der Gegenstand Ihres Buches ist „Awakening the power of essence love“ - „Die Kraft der Essenz-Liebe wecken“. Könnten Sie uns ein bisschen darüber erzählen, was Sie mit „Essenz-Liebe“ meinen?

Antwort: Ich gebe Belehrungen seit etwa 20 Jahren und mir ist in dieser Zeit klar geworden, dass die Basis unseres Wohlbefindens das sein sollte, was ich die „Essenz-Liebe“ nenne. Ohne dies, denke ich, bewegt uns eine Menge anderer Dinge, wie zum Beispiel Hoffnung und Angst.
Worum es mir geht, ist, dass wir als Kinder ganz natürlich diesen „Funken“ in uns tragen. Darin ist Offenheit, Freiheit, Klarheit und Liebe.
Aber wir legen so viel Wert auf eine Erziehung, die intellektuell-kognitiv ausgerichtet sein soll. Hauptsächlich diese versuchen wir zu fördern. Dabei missachten wir unser Wohlbefinden im Gefühlszentrum. Daher haben wir allmählich anstelle von Liebe Furcht entwikkelt.
Wenn wir dann erwachsen sind, haben wir zwar ein ausgeprägtes intellektuell-kognitives Verständnis, aber nicht dieses Wohlbefinden. Darüber möchte ich mich unterhalten, und ich möchte gerne eine Rückverbindung zu unserer Essenz-Liebe schaffen.
Der Grund, dieses Buch zu schreiben, ist, wie wir unser grundlegendes Wohlbefinden mit unserer Essenz-Liebe verbinden können.

Frage: Rinpoche, würden Sie sagen, dass ausnahmslos jeder Mensch diese Art von „Funken“ in sich trägt? Unabhängig davon, wie die Kindheit oder die Erziehung war?

Antwort: Ja. Ich denke, jedes gesunde Kind trägt das in sich.
Ich erinnere mich, wie ich selber als Kind im Dorf diesen Funken in mir hatte und eine starke Liebe verspürte. Als ich dann ins Kloster kam, viele Jahre mit dem Studium verbrachte und mit viel Intellektuellem und Ritualen beschäftigt war, deckte das langsam diesen Funken und meine Liebe zu, so dass ich sie sieben Jahre lang nicht wiederfinden konnte. Aber gegen Ende meiner Ausbildung traf ich viele erstaunliche Lehrer und verwirklichte Wesen, die systematisch meine Essenz-Liebe wieder hervorbrachten.
Sie war nie ganz verschwunden, sie war immer da. Es hängt von den Umständen ab, ob sie zugedeckt ist oder nicht. Aber ich meine, in den allermeisten gesunden Kindern ist sie vorhanden.

Frage: Wenn man eine sehr schwere Kindheit hatte, ist diese Essenz-Liebe also vielleicht mehr überdeckt, aber dennoch da?

Antwort: Ja. Da kommen nun die vier verschiedenen Arten von „Ich“ ins Spiel.
Es gibt ein grundlegendes, gesundes Ich, das ich das „Bloße Ich“ nenne. Das benutzen wir, wenn wir zum Beispiel sagen: „Ich komme“, „Ich gehe“ „Ich begegne“ – diese Art von Bezugspunkt. Das ist entspannt und offen.
Aber infolge von Schwierigkeiten und Umständen verfestigen wir allmählich das, was auf uns zukommt und unsere eigene Erfahrung - Subjekt und Objekt. Alles wird eine „unverrückbare Tatsache“. Wenn wir auf diese Weise zunehmend an unserer Identität als „wirklich“ festhalten, dann entsteht das, was ich das „Verfestigte Ich“ oder „Stabile Ich“ nenne.
Wegen dieses „Verfestigten Ichs“ und infolge der Blockierung durch unsere Gewohnheitsmuster spüren wir dann nicht mehr die Essenz-Liebe. Wir können uns nicht mehr damit verbinden, weil wir blockiert sind.
Tief drinnen sehnen wir uns danach, uns wohl zu fühlen, glücklich und geliebt zu sein. Aber wir können keine Verbindung dazu aufnehmen. Das nenne ich das „Bedürftige Ich“, das glücklich sein möchte. Dann dreht sich allmählich alles nur noch um „mich“. Auch wenn man etwas für die anderen tun möchte, versucht man nun, von den anderen Belohnung und Glück zu erhalten, um die eigene innere Bedürftigkeit zu stillen.
Es gibt aber einen Prozess, eine Technik, um das „Verfestigte Ich“ zu lockern und zu öffnen. Wenn wir das „Verfestigte Ich“ öffnen, wird die Essenz-Liebe von ganz alleine enthüllt. Dann müssen wir sie pflegen und nähren, mit einem offenen Geist und in Entspanntheit.

Frage: Als westliche Praktizierende haben wir das Problem, dass wir versuchen, solche Dinge mit dem Geist zu lösen. Wir versuchen, von dem „Verfestigten Ich“ auf eine gewaltsame Art und Weise loszukommen.

Antwort: Ich meine, unser Geist sollte durch richtige Achtsamkeit und Einsicht wissen, in welcher Art von Verfestigung und in welchen Mustern wir sind. Der Geist kann uns ein sehr gutes Bild und Einsichten geben.
Wenn wir dann praktizieren, müssen wir im sogenannten „Subtilen Körper“ diese Offenheit erfahren, und nicht auf intellektuelle Weise. Am Anfang ist zwar die intellektuelle Herangehensweise sehr hilfreich, aber ab einem gewissen Punkt müssen wir die Freiheit und Offenheit in unserem Körper fühlen, und ganz besonders im Subtilen Körper. Das nenne ich die „Erleuchtung des Körpers“. Es geht nicht nur um den Geist.

Frage: Als ich Ihr Buch zum ersten Mal las, dachte ich, etwas, was Ihr Buch ganz besonders und anders macht gegenüber vielen anderen Büchern, ist die Idee des „Subtilen Körpers“ so wie Sie ihn beschreiben. Und die Dinge, die man da tun kann. Das gibt das Empfinden von einem kompletten Pfad.

Antwort: Ja, im tibetischen Buddhismus sprechen wir sehr oft vom „Subtilen Körper“, besonders im Rahmen des „Inneren Yoga“.
In Amerika habe ich viele Menschen gesehen, deren Geist sehr klar ist, die über viel Einsicht verfügen und eine hervorragende Ausbildung haben, aber in deren Gefühlsbereich etwas blockiert ist. Und das, so meine ich, ist nicht der Geist. Es ist vielmehr die Energie, der Subtile Körper, der blockiert ist.

Frage: Ist das einer der Unterschiede, die Sie zwischen östlichen und westlichen Praktizierenden sehen?

Antwort: Ja. Ich denke, bei östlichen Praktizierenden ist der Geist gut, aber nicht so differenziert. Bei westlichen Praktizierenden finden wir eine sehr gründliche Ausbildung und ich denke, der Geist ist viel stärker entwickelt als bei östlichen Praktizierenden. Aber der Gefühls-, der Herzbereich ist eingeengt und blockiert, zugedeckt. Von daher denke ich, wir sollten mehr Aufmerksamkeit auf unser Herz legen. Deswegen der Buchtitel: „Offenes Herz“.

Frage: Rinpoche, Sie benutzen den Ausdruck „Das Herz eines Kindes“. Und welche Art von Geist?

Antwort: In diesem Land ist der Geist bereits sehr gut entwickelt. Das Einzige, was wir wieder einführen müssen, ist das „Herz eines Kindes“, und dies mit dem „erwachsenen Geist“ verbinden, Wenn diese beiden zusammenkämen, wäre es wundervoll. Im Osten müssen wir einen „erwachsenen Geist“ entwickeln, denn der Geist ist dort unterentwickelt. In vielen Ländern dort funktioniert der Geist nicht. Da gibt es keine Struktur, keine Planung, keine richtige Organisation. Hier dagegen ist alles an seinem Platz. Im äußeren, kognitiven Bereich seid ihr sehr gut. Das müssen wir im Osten lernen.
Aber im Westen gibt es infolge der kognitiven Erziehung und Ausrichtung manchmal eine Art „Überhang“, wie ich es nenne. Dieser war nützlich in unserer Jugend, aber jetzt ist er es nicht mehr. Daran müssen wir arbeiten, um den alten, inzwischen abgelaufenen „Überhang“ zu reinigen. Und dann das „Herz eines Kindes“ mit dem „Geist eines Erwachsenen“ verbinden.

Frage: Es gibt ja den schönen Ausdruck: „Das kindliche Herz ist rein“.

Antwort: Richtig. Und ich möchte keinem Kind einen „Kopf“ wachsen lassen. (Rinpoche lacht) Ich weiß, was „Kinderkopf“ in Nepal bedeutet.
Aber Erwachsenen-Geist und Kinder-Herz, wenn diese zusammenarbeiten, können wir emotional im Kinder-Herz leben, und wenn wir handeln, benützen wir unseren Kopf. Und diese beiden sollten in Harmonie leben.

Frage: In Ihrem Buch stellen Sie viele Methoden zum Lockern des „Verfestigten Ich“ vor. Könnten Sie ein bisschen dazu sagen, wie das in der Praxis aussieht?

Antwort: Ich denke, bei jedem Ereignis oder jeder Erfahrung, besonders bei einer verzerrenden Erfahrung im Subtilen Körper, springen wir sofort zu dem Schluss: „Das bin Ich“, und das ist sehr festgefügt. Wir haben vergessen, dass diese Gewohnheitsmuster von vorübergehender Natur sind.
Was wir wirklich sind, ist bedingungslose Essenz-Liebe und der Raum oberhalb der Wolken. Aber wir haben diese Art von Offenheit und unsere „Essenz-Liebe“ vergessen. Wenn wir nun zum Beispiel eine unangenehme Erfahrung machen, greift unser Selbst sofort danach. Es macht diese Erfahrung zu einem Teil des eigenen „Ich“ und behält das auch weiterhin in sich, ein unnötiges Festhalten.
Es gibt aber eine Methode, um damit umzugehen. Durch aufmerksames Beobachten bekommst du heraus, wie das Muster entstanden ist (aufgrund welcher unangenehmen Erfahrung). Dann sagst du ein Mantra zu deinem Muster. Du sagst es nicht zu dir selbst. Dein Selbst ist nämlich das „Bloße Ich“, und zu dem brauchst du nichts zu sagen. Das Problem ist nicht dein Selbst, sondern das Muster.
Du sendest also sehr freundlich eine „Text-Botschaft“ von deinem Kopf zu deinem Subtilen Körper, zu deinem Gewohnheitsmuster. Das Mantra lautet: „Es ist wirklich, aber es ist nicht wahr!“
„Es ist wirklich“, weil das Gefühl real ist. Du fühlst wirklich diese Blockierung oder das Muster, in dem du steckst. Das spürst du, das lässt sich nicht wegleugnen. Freundlich und offen akzeptierst du, dass das Gefühl vorhanden ist.
Aber das Muster hat auch ein Recht darauf, die richtige „Antwort“ zu bekommen. Du sagst daher zu dem Muster: „Aber es ist nicht wahr!“
Die Erklärung dafür: Vor langer Zeit ist irgend etwas geschehen. Daran hältst du noch fest. Dein Ich meint, dass jetzt das Gleiche wie früher geschieht. Aber tatsächlich hat sich dieses Ereignis schon vor langer Zeit abgespielt, es ist längst vorbei. Woran wir also leiden, ist ein altes Überbleibsel von früher.
Ganz langsam lösen wir das nun auf, mit Hilfe des Geistes und richtigen Verständnisses, mit Fürsorge und Liebe, und mit sanftem Sprechen zu dem Ego. Wir sagen: „Okay, du fühlst so (als ob es die gleiche Situation wie früher wäre) - aber tatsächlich ist es nicht so.“

Frage: Das ist erstaunlich, wie Sie alte buddhistische Lehren sozusagen auffrischen, wie Überlegungen aus der modernen Psychologie.

Antwort: In den buddhistischen Lehren wird von der „Buddha-Natur“ gesprochen. Diese ist von Anbeginn rein, offen, klar, liebevoll und mitfühlend. Aber infolge verschiedener Umstände wird sie überdeckt.
Wenn wir daher Mitgefühl praktizieren, ist die höchste Form die, dass wir den Verblendungen Mitgefühl schenken, und nicht der Essenz unseres Wesens. Die Verblendungen sind vorübergehende Erscheinungen.
Und das Gleiche gilt auch für unsere Muster. Sie sind nicht der Kern unseres Wesens, sondern sie kommen und gehen auf unserem Pfad.

 

Quelle: Audio-Aufnahme des buddhistischen US-Magazins “Tricycle”, anzuhören unter:

http://www.tricycle.com/blog/tricycle-talks-tsoknyi-rinpoche-and-sharon-salzberg

Transkribiert und bearbeitet: hgm