Nicht-Meditation: Konzepte in der Weite des Raumes auflösen

Belehrungsausschnitt, Seminar Beatenberg 29.03.2011

In dem Dreischritt von Basis, Weg und Resultat befinden wir uns derzeitig in der Erklärung des Weges. Wir haben bei dem Weg eine zweifache Unterscheidung getroffen, einen Weg der Methode und einen Weg der Befreiung. Wir befinden uns derzeit beim Weg der Befreiung. Das haben wir schon abgehandelt: die rechte Sichtweise der Shamatha-Praxis (der Geistesruhe), die Fortführung dieser Sichtweise, nämlich die Meditation, und das Immer-wieder-Zurückkommen zu dieser Sichtweise, nämlich das Ethische Verhalten. Dann haben wir noch abgehandelt die Vipassana, und bei Vipassana haben wir unterschieden zwischen der analytischen Meditation und der Meditation des Verweilens in der direkten Erkenntnis. Aber auch bei der Vipassana gibt es Sichtweise, Meditation und Ethisches Verhalten, was bisher nur kurz angedeutet wurde bisher.

Wir können alle Praxisformen in den Meditationen von Shamatha und Vipassana zusammenfassen. Die Mahamudra- und die Mahasanti-/Dzogchen-Lehre der Großen Vollendung sollten wir in den Kontext von Vipassana platzieren. Und in welchen Bereich von Vipassana? In den Bereich der direkten Einführung in die eigentliche Vipassana, in die eigentliche Einsicht in die Natur der Dinge. Also man kann sagen, die Lehre der Großen Vollendung ist eine Intensivierung der Vipassana-Praxis.
Was ist das Thema der Vipassana? Auf welche Einsicht zielt das ganze Vipassana-System ab? Es zielt letztlich auf die Einsicht des Nicht-Selbst ab. Und zwar in erster Linie auf die Erkenntnis des Nicht-Selbst der Person. Aber wir haben gestern gehört, dass es auch ein Nicht-Selbst der Phänomene gibt, und das bedeutet, dass wir zumindest ein gewisses Verständnis davon haben, dass wir alle Phänomene, alle Erscheinungen, unsere gesamte Wahrnehmung, als eine illusorische Wahrnehmung betrachten. Wenn wir jetzt diese Übungen, wie wir sie gestern gelernt haben (Vipassana mit Analyse und Vipassana ohne Analyse), in dem Verständnis, das man durch die Analyse gewonnen hat, praktizieren, so ist dieser Zugang zur Erkenntnis, zur Einsicht, immer noch im Rahmen von Konzepten. Wie man es auch dreht und wendet, man ist immer noch im konzeptionellen Bereich. Und jetzt ist die Aufgabe im Bereich der Dzogchen-Lehre, sämtliche Konzepte in der Weite des Raumes, im Leerheitsaspekt aufzulösen.
Ein einfaches Beispiel (Rinpoche demonstriert): Gesetzt den Fall, meine Finger der linken Hand sind alle zusammengeklebt. Meine rechte Hand versucht jetzt, die zusammengeklebten Finger zu öffnen (indem die Finger der rechten Hand zwischen die Finger der linken Hand geschoben werden). Sind die Finger jetzt geöffnet oder nicht? Die rechten Finger, welche die verklebten linken Finger geöffnet haben, haben nun die Öffnungsspalte besetzt. Wenn man aber wirklich offene Räume haben will, muss man auch die öffnende Hand loswerden. Wenn man öffnet, das heißt eine Methode anwendet (man meditiert, man versteht etwas), aber die Methode darin lässt, dann ist der Raum, den man versteht, besetzt. Es ist richtig, aber nicht ganz richtig. Man muss wegkommen von der Besetzung. Dann ist es wahrhaft offen.
Das ist ein Beispiel dafür, dass man in der Praxis der Großen Vollendung von allen Fabrikationen, meditativen Manipulationen loslassen muss und dass ein natürliches Verständnis aufkommen muss. Unser bisheriger Zugang zum Verständnis ist immer mit einer Anstrengung verbunden. Davon muss man loslassen, man muss das angestrengte Suchen nach Verstehen loslassen. Es geht um die Erkenntnis einer fundamentalen, grundlegenden, lichthaften Basis. Es geht um eine Praxis, die jenseits der Praxis ist.
Ein Drukpa-Kagyu-Meister schrieb zwei wunderschöne Zeilen:
„Die meisten Wesen erwachen deswegen nicht, weil sie nicht meditieren.
Aber einige Yogis erlangen deswegen kein Erwachen, weil sie meditieren.“
Natürlich fängt man mit Meditation an, aber letztlich muss man jenseits von Meditation kommen. Man wendet eine Methode an, ein konzeptionelles Verständnis, aber wir müssen letztlich jenseits dieser Methode kommen, um an die wahre Öffnung zu gelangen, jenseits von Vorstellungen, jenseits aller mentalen Fixierungen.
Wenn man einen Fluss überqueren will, benutzen wir ein Boot, oder einen Hubschrauber. Auf der anderen Seite steigst du dann aus und sagst „Dankeschön!“ zum Boot. Aber nicht: “Dieses wunderbare Boot war so freundlich, ich liebe dieses Boot, es hat mich hierher gebracht, ich küsse das Boot - und ich bleibe im Boot.“ Wie schön das Boot auch ist, irgendwann musst du das Boot hinter dir lassen.
Wie schön die buddhistischen Methoden auch sein mögen, irgendwann musst du all diese Methoden loslassen. Sonst bleibst du ein Gefangener der Methoden, gefangen von Techniken. Du bist verstrickt im buddhistischen spirituellen Kokon. In einer Kette von Gedanken, ein Gedanke nach dem anderen. Wir wenden verschiedene Methoden an wie Shamatha, Vipassana, vielleicht die philosophische Analyse des Mittleren Weges. Da haben wir dann einen Raum zwischen den Gedanken geschaffen, wir haben eine Vorstellung des Nicht-Selbst, wir haben verstanden, dass alle Phänomene leer sind. Aber unser Verständnis, derjenige der versteht und das Verständnis, halten diesen offenen Raum irgendwie besetzt. Dass wir unser schwer errungenes Verständnis jetzt loslassen müssen, das ist schwer. Aber irgendwann müssen wir loslassen. Intellektuell loszulassen ist sehr schwer. Warum? Wir lieben unsere Erkenntnis. Und obendrauf sind wir G’schaftelhuber, wir machen immer gerne etwas. Nichts tun macht uns wahnsinnig.
Der große Mahasiddha Saraha aber sagte:
„Durch einen Dharma des Tuns
kannst du den Kern, die Bedeutung des Nicht-Tuns
nicht erkennen.“
Es ist so: Wir wenden eine Methode an, um die Methoden-Besetzung loszuwerden. Wir wenden eine (neue) Methode an, um die (alte) Methode loszuwerden. Wir tauschen die eine Besetzung gegen eine andere aus. Wie wir es drehen und wenden, solange wir uns im Bereich des konzeptionellen Verstehens bewegen, findet immer eine methodische Besetzung statt. Was wir aber wollen, ist die Erkenntnis der Natur unseres Geistes, der wahren Natur unseres Geistes.

 

Übersetzer: Andreas Kretschmar
Transkribiert und bearbeitet: hgm

Quelle: News Archives by month, June 2011